Der Weg des Wassers

Als ich so Mitte 20 war, wollte ich alleine mit dem Motorrad von Hannover nach Schottland fahren – und zwar bis auf die Orkneys. Natürlich hatte ich vorher noch nie so eine lange Fahrt unternommen und von allem keine Ahnung und keinen Plan – aber das war mir egal, weil ich die „Gefahren“ gar nicht gesehen habe. Ich hatte Vertrauen in mich und die Welt und ich wollte das halt machen.

Und so sehe ich meine Mutter noch im Rückspiegel an der Straße stehen und mir einen Eimer Wasser hinterher kippen. Ein türkischer Brauch, ein Aberglaube. Möge dein Weg so leicht und schnell sein, wie der des Wassers. Fahre schnell und komm schnell wieder zurück. Und dabei hat sie gelächelt und gewunken, obwohl ihr vermutlich das Herz in der Brust zersprang.

Heute morgen nun ist mein Großer, fast 23 Jahre alt, alleine zu einer Radtour aufgebrochen, die ihn von Hannover zunächst nach Hamburg, dann an die Ostseeküste und von dort schließlich ins über 1.400 Kilometer entfernte Le-Mont-Saint-Michel in Frankreich führen soll. Als Vater schlage ich sämtliche Hände über dem Kopf zusammen, ob der schieren Grünschnäbeligkeit dieses Vorhabens – doch er schlägt zeitgleich alle Einwände in den Wind und macht es einfach. Weil er Vertrauen hat – in sich und die Welt. Weil das eben so ist, wenn man Mitte 20 ist.

Und so bleibt mir nichts anderes übrig, als morgens um Sieben einen Eimer Wasser hinter ihm her zu schütten und sein Vertrauen zu teilen und an ihn und die Welt zu glauben. Und dann dreh ich mich um und sehe meine Mutter hinter mir stehen. Und ich sehe sie mit so viel klareren Augen, die man erst 30 Jahre später hat. Und ich bin dankbar. Für die Vergangenheit, für die Gegenwart und für die Zukunft. Möge sein Weg leicht und schnell sein, wie der Weg des Wassers. Und möge er dennoch wachsen und tausend Abenteuer erleben.

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